Die sowjetische Verfolgung als historische und theologische Herausforderung
Roman Winter-Tietel
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Geistliche
Wirft man einen Blick auf die gegenwärtigen ökumenischen Themen, so dominieren neben den klassischen Fragen zur Ekklesiologie gerade heute die weltanschaulichen Debatten über Frauenordination, Ehe und Schriftverständnis. Weltanschaulich meine ich sie deshalb nennen zu dürfen, weil die Gräben nicht länger zwischen verschiedenen Konfessionen gezogen werden, sondern zu großen Teilen die Differenzierungen jeder einzelnen Kirche betreffen. Dass es also viele Streitthemen gibt, ist aktuell offenkundig. Dass zu diesen Streitthemen christliche Märtyrer aber nicht gehören, ist nach den verheerenden Erfahrungen des 20. Jhs. ebenso deutlich. Ganz im Gegenteil sogar erscheint das Thema Märtyrertum zu einer erstaunlichen ökumenischen Nähe geführt zu haben. Diese Nähe zeichnete sich in Deutschland etwa durch die gemeinsamen Ehrungen und das gemeinsame Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus aus. Genannt seien an dieser Stelle die Lübecker Märtyrer als bekanntes Beispiel ökumenischen Gedenkens zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland. Aber natürlich zählen auch die Scholl-Geschwister und Alexander Schmorell heute zu zentralen Figuren des ökumenischen Martyriums. Eine wichtige Etappe erreichte diese Nähe im Mai des Jahres 2000 in einer ökumenischen Gedächtnisfeier im und vor dem Kolosseum in Rom. Tausende Versammelte gedachten damals der Glaubenszeugen verschiedenster christlicher Konfessionen, die im 20. Jh. durch die mannigfaltigen Regime und Diktaturen auf allen Kontinenten der Welt ihren Tod fanden. Zu diesem Anlass wurden acht Präsentationen mit Stellvertretern jeweiliger Gewalterfahrung abgehalten. Derart wurden für die Opfer des Sowjetregimes der russisch-orthodoxe Patriarch Tichon und für die Opfer des Nationalsozialismus der lutherische Pfarrer Paul Schneider ausgewählt. Die Feier endete in einer gemeinsamen Liturgie mit anschließenden Seligpreisungen der im Gottesdienst genannten Opfer und Märtyrer. Im Vorfeld dieser Ereignisse und angesichts der Verfolgungserfahrungen sprach Papst Johannes Paul II. darum von einem Ökumenismus der Heiligen und Märtyrer. Jene, die konfessionsübergreifend unter bolschewistischer, nationalsozialistischer oder militärdiktatorischer Verfolgung starben, sind ein Zeugnis für die wahre, verborgene Einheit der Christenheit und ein Zeichen der Hoffnung auf gegenseitige Versöhnung. Denn im Einstehen für Christus gibt es keine konfessionellen Differenzen mehr. So scheint es.
Denn eines bleibt bei diesen Hoffnungszeichen wohl unbenannt. Alle diese Beispiele zeugen nämlich von der praktischen Ökumene des Märtyrertums, nicht aber von einer ökumenischen oder transkonfessionellen Theologie des Martyriums. Und ich meine hier gilt es durchaus zu unterscheiden. Denn während nur wenige in Abrede stellen würden, dass Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider, Max Joseph Metzger, Alexander Schmorell oder der Erzbischof von Twer, Faddej (Uspenskij), Märtyrer sind, endet diese praktische Einigkeit bei einer Definition des christlichen Martyriums. Denn eine solche impliziert naturgemäß die Reichweite der zu akzeptierenden Märtyrer genauso wie die Frage nach ihrer Verehrung im Rahmen der Ekklesiologie, oder den eschatologischen Implikationen und Vorstellungen. Hier aber scheiden sich wohl die Geister.
Das legt nahe, dass zwischen Märtyrer und Martyriumsbegriff unterschieden werden kann – und es überrascht einen zugleich, dass die Praxis einer ökumenischen Märtyreranerkennung oft gelingt, während die theologischen Differenzen bezüglich des christlichen Martyriums nachwievor unausgeräumt bleiben.
Aber welche Differenzen meine ich eigentlich, wenn ich an dieser Stelle den Martyriumsbegriff problematisiere? Das will ich im Folgenden und zuerst historisch am Beispiel des russisch-orthodoxen Verständnisses vom Martyrium sowie der erlitenen Verfolgung darlegen. Als Vergleich dazu dienen mir die Verfolgungssituation und die Martyriumstheologien in Deutschland. Wenn ich hier die Verfolgungssituation der beiden Länder in den Fokus rücke, impliziert das eine These, die ich gleich an den Beginn stellen möchte. Nämlich dass neben den konfessionell-dogmatischen Eigenprägungen der Kirchen gerade die historisch situierte Verfolgung einen wesentlichen Einfluss auf das Verständnis vom Martyrium und Märtyrern hat. Das Martyrium ist daher immer schon dadurch einzigartig, weil keine Verfolgung der anderen gleicht. Auch wenn man gerne Analogie bildet, etwa zu jener Zeit der Alten Kirche.
Nun will ich in gebotener Kürze über die historische Situation der bolschewistischen Verfolgung sprechen.
Die aus der Sicht der Bolschewiki größte und wichtigste Revolution der Menschheiti brachte in der Tat Verheerendes und Ernstzunehmendes hervor – Millionen Inhaftierte, hunderttausende Ermordete, eine Genozidii-ähnliche Vernichtung des Religiösen. Die antireligiöse Propaganda und die militante Bekämpfung setzen unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 ein. Sie waren vordergründig ideologisch bedingt; denn die Anhänger des Leninismus und dessen Version des Marxismus verstanden sich als konsequente (zum Teil militante) Atheisten. Gottes Dasein sei demnach keine Frage, sondern bereits beantwortet: Es gibt ihn nicht, die Welt ist causa sui.iii Alles andere erscheint als Verdrehung der Realität und kann nur einem Zweck dienen: Der Ausbeutung und der Instrumentalisierung des daraus entstehenden Trostbedürfnisses.iv Somit sei jede Form direkter oder indirekter Religion nicht nur dumm, sondern auch gefährlich – und muss beseitigt werden.
Damit kann dieses Denken zurecht als „militanter Atheismus“v bezeichnet werden. Die Weltanschauung des atheistisch-kommunistischen Regimes war auf Materialismus, moderne Wissenschaftlichkeit und Technik ausgerichtet,vi „und dies in einem Land, dessen gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Strukturen nach dreieinhalb Jahren Krieg und Revolution beinahe völlig zerrüttet waren.“vii In diesem Klima sahen die Bolschewiki mehrere äußere Feinde: Die Weiße Bewegung, die langsam zugrunde gehende Monarchie und die von ihnen als Kontinuität stigmatisierte und die Monarchie unterstützende ROK.viii Kontinuität meint dabei alles, was mit dem Topos ‚Opium des Volkes‘ix verbunden werden kann: Erhalt der Bourgeoisie, Versklavung der Arbeiter, „Schutzmacht der ausbeuterischen Klassen“x sowie Verdummung der Bauern. Die ROK wiederum befürchtete in der Herrschaft der Bolschewiki viel mehr eine Entsittlichung der Gesellschaft als etwa die Unvereinbarkeit mit dem Kommunismus.xi
Dabei bedienten sich diese Formen des politischen Totalitarismus ebenfalls religiös anmutender,xii zumindest aber imitierender Instrumente; darauf macht Assen Ignatow aufmerksam, [Zitat]: „Alle wichtigen Elemente jenes geistigen, seelischen, emotionalen und praktischen Glaubenskomplexes, den wir ‚Christentum‘ kennen, haben ihre Entsprechung im Kommunismus.“xiii So habe der atheistische Kommunismus nach Ignatow zwar keine direkte Transzendenz mehr, sieht aber in der prädestinierten Geschichte ein immanentes Ziel im Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus.xiv Ferner werden andere Elemente wie Gut-Böse durch Proletariat-Bourgeoisie, Hagiographie und Martyrologie durch mythische werdende Revolutionäre sowie Messen ersetzt. Gebete weichen Parteikongressen, Slogans und Kampfliedern (etwa der Internationalen); Kirche, Hierarchie und Lehramt werden durch Partei und Zentralkomitee abgelöst.xv In dieser eigentümlichen und unterschwelligen Nähe zwischen Politik und Religion sieht Ignatow auch den Grund für die Härte der Verfolgung;xvi weil es sich um den, [Zitat] „Kampf einer Religion gegen eine andere“xvii handelt. Ob diese Analyse Ignatows in Gänze zutrifft, will ich dahingestellt sein lassen. Plausibel ist sie aber durchaus.
Diese Motive und der quasireligiöse Charakter der politischen Macht ist der Boden, auf dem die Verfolgung der ROK begann und wohl bis zum Ende der Sowjetunion mit zeitweisen Unterbrechungen gedeihte. Zugleich liegt gerade darin der markante Unterschied zur deutschen Geschichte und der nationalsozialistischen Unterdrückung der Kirchen. Ja, ich würde es sogar auf einen radialen Unterschied zuspitzen, mit der These, dass es im nationalsozialistischen Deutschland keine Verfolgung der Kirchen gab. Zweifellos wurden die Kirchen als Institution geschwächt und gespalten, wurden Priester und Pfarrer verhaftet und ermordet, wurde die Christenheit mit dem Gift des Faschismus infiziert. Doch rechtfertigen diese Geschehnisse meines Erachtens noch nicht den Begriff der Verfolgung, gerade dann nicht, wenn er mit der russischen Geschichte verglichen wird. Was nämlich die Verfolgung in der Sowjetunion charakterisiert, war die Intention der Vernichtung von Kirche und Religion. Im Gegensatz dazu war es unter dem Nationalsozialismus möglich, Christ und Faschist zu sein, insofern man seine Religion im Privaten kultivierte und dem Staat seine Gräueltaten gegen Juden, Kranke und Minderheiten durchgehen ließ. Erst dort, wo Christen gegen diese Untaten aufstanden, wie Max Joseph Metzger, die Lübecker Märtyrer oder auch Patriarch Tichon in seiner Situation, gerieten Christen ins Visier der Macht und wurden ermordet. Der Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus liegt also nicht allein in der Quantität oder Qualität der Verfolgung, sondern in den Möglichkeiten, die Christen gegenüber der politischen Macht hatten. Auf die Spitze getrieben, wird man vielleicht sagen dürfen, dass die Christen in den Vorkriegsjahren in Russland aufgrund ihres Christseins verfolgt wurde und oftmals nicht allein aufgrund ihrer Opposition gegenüber der politischen Macht wie es in Deutschland wohl der Fall war. Gerade das aber beflügelt im postsowjetischen Russland und den kirchlichen Heiligsprechungsprozessen mitsamt den Martyrologiumsschreibungen die Analogie zur Verfolgung der Christen im Römischen Reich. Auch damals wurden ja Christen aufgrund ihres Bekenntnisses, Christianus sum, verfolgt und den Löwen vorgeworfen – wie im Bolschewismus also?
Nun, nicht ganz, denn es gibt zwei Unterschiede zum Römischen Reich. Der eine betrifft die Zeit der stalinistischen Säuberungen, der andere das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Und hier treten auch die Probleme auf, die den Märtyrerstatus insgesamt bedrohen und für die Heiligsprechungskommissionen nicht ohne Folgen bleiben. Was nämlich die stalinistische Vernichtung kennzeichnet, ist ihre Willkür und Unumkehrbarkeit. Christen wurden, genauso wie andere Gruppen auch, des nachts aus ihren Häusern geschleppt, in die Lubjankas geschafft, verhört, denunziert, belogen und schließlich in den GULag-Lagern vernichtet. Es gab selten oder kein Entrinnen, es gab kein Bekenntnis, kein Abschwören, kein Lossagen von Christus, keine Wahl – weil danach nicht gefragt wurde. Was aber ist das Martyrium, d.h. Zeugnis, ohne das Bekenntnis und ohne die Wahl? Wofür starben die unzähligen Frauen und Männern in den Lagern? Waren sie nicht vielmehr Opfer als Märtyrer? Sind aber beide identisch? Gab es das im Römischen Reich? Ein vorschnelles Ja sollte die Geschichte prüfen. Man wird wohl vereinzelt auf ähnliche Fälle stoßen, doch implizierte die Römische Verfolgung insgesamt doch die Möglichkeit einer Rückkehr zu den Göttern und Gesetzen Roms. An der Sinnlosigkeit und Brutalität der stalinistischen Vernichtung strandet daher der Martyriumsbegriff, weil die Christen hier oftmals Opfer und nicht länger Bekenner waren.
Der zweite Unterschied betrifft die Rolle und Qualität der ROK im Verhältnis zum Staat. Während nämlich die Alte Kirche stets eine Minderheit im Römischen Reich war und als jüdische Sekte verfolgt wurde, ist der Status der ROK ein umgekehrter: Russland war vollständig christianisiert und in allen Bevölkerungsschichte christlich. Die ROK stellte also die Mehrheit da. Eine verfolgte Mehrheit. Gibt es das aber? Ist das nicht ein Widerspruch? Auch hier strandet das Martyriumsverständnis. Denn einem christianisierten Land muss man doch nichts bekennen? Es sei denn, es trifft zu, was Kierkegaard einst über sein Dänemark urteilte, [Zitat] „Christlich ist dieser [Zustand meines Landes] freilich ungefähr so erbärmlich wie nur möglich…Das Prädikat ‚christlich‘ ist lächerlich, wenn man es auf [mein Land] anwendet.“xviii Es bleibt eine unbeantwortete Frage, wie es eigentlich zum Martyrium in christlichen Ländern kommen kann; insofern man reformgesinnte Bewegungen außer Acht lässt.
Mit diesen zwei kirchengeschichtlichen Problemen offenbaren sich nun im eigentlichen Sinne systematisch-theologische Schwierigkeiten einer einheitlichen Martyriumstheologie. Denn das christliche Martyrium wird theologisch im Wesentlichen als ein Tat- und Wortzeugnis für Christus im Todeszeitpunkt verstanden. Aber die russische und deutsche Geschichte zeigen, dass diese Definition nicht länger adäquat zu sein scheint. Entweder nämlich lassen sich die Tatzeugnisse der Christen auch mit anderen Motiven erklären, was gerade in deutschen Martyrologien immer wieder durchscheint, weil die Märtyrer aus humanistischen und gebildeten, freilich oft christlichen Häusern stammen, wie Bonhoeffer oder Hans Johann Georg von Dohnanyi. Oder das Wortzeugnis erstickt in der Vergessenheit der Zelle, sofern es überhaupt verlangt wird, wie es ungezählt in den Lubjankas der Fall war. Das zwanzigste Jahrhundert ist nun mal nicht mehr kommensurabel mit der Zeit des Römischen Reiches; denn entweder, wie im Falle des Nationalsozialismus, werden Christen nicht aufgrund der Religion, sondern aufgrund des Hochverrates umgebracht, weil dem Regime die Religionszugehörigkeit im Grunde gleichgültig ist. Oder aber es ist gerade die Religion, die verfolgt wird, wie in der Sowjetunion; doch nun ist es wiederum gleichgültig, was das Bekenntnis ist, weil es um die Erfüllung einer Liquidierungsquote und nicht um eine Reintegration in den Staat geht, weshalb ein öffentliches Bekenntnis in einem Kolosseum sinnlos ist.
Meine kritischen Beobachtungen zielten darauf hin, Herausforderungen einer ökumenischen Martyriumstheologie aus historischer Hinsicht zu benennen. Es scheint mithin so zu sein, dass die jeweils kontingente Geschichte einen spezifischen Märtyrertypus profiliert, was einer Theologie des Martyriums im Wege steht. Wenn dieser Sachverhalt aber stimmt, offenbart sich im Martyrium ein gravierendes Problem der Theologie überhaupt: Denn dann lässt sich die Theologie ihre Begriffe von der Geschichte diktieren. Es zieht mithin die Gefahr herauf, dass es gerade die historisch-politische Situation ist, die das Martyrium zu dominieren und zu charakterisieren scheint, weil das christliche Martyrium über die Verfolgung und nicht aber über die immanenten dogmatischen Zusammenhänge definiert wird. Und dieses theologische Problem lässt sich nicht einfach dadurch lösen, dass man einer kontingenten Zeitsituation, der des Römischen Reichs z.B., ein normatives Primat einräumt und es dadurch idealisiert. So würde dann die Römische Verfolgung zum Martyriums bestimmenden Element stilisiert.
Daher erwächst aus dieser historischen Problemstellung eine systematisch-theologische Frage nach der Eigenart des christlichen Martyriums, und zwar unabhängig seiner Einbettung in die Geschichte? Aber gibt es das? Gibt es theologische Begriffe, die der Geschichte enthoben sind, also geschichtsvergessend? Auch das ist doch wohl höchst fragwürdig. Die Beantwortung dieser Frage muss sowohl sensibel für die kontingente Geschichte sein, wie es gleichzeitig die Eigenart des christlichen Martyriums erschließt. Und das gelingt dort, wo das Martyrium nicht länger über die Verfolgung und den Todeszeitpunkt bestimmt wird, sondern über das Zeugnis und das Leben. Über diese Aspekte möchte ich zum Schluss noch ein wenig sprechen.
Christliche Theologie kann die christliche Existenz nicht unter Wert verkaufen – im Sinne einer billigen Gnade wie es Bonhoeffer angemahnt hatte. Christsein kostet etwas, im schlimmsten Falle das Leben. Doch darf dieser Preis auch nicht ins andere Extrem umschlagen, wie es bei Kierkegaard zuweilen durchscheint, der meinte, jeder Christ ist ein Märtyrer, und wer kein Märtyrer ist, ist auch kein Christ. Das ist falsch. Die christliche Existenz bestimme sich nicht allein aus dem Martyrium, weder bei Christen noch bei Christus. Um diesen Extremen zu entgehen, plädierte Eberhard Schockenhoff für den Begriff der Orientierung im Gegensatz zur Imitatio. Glaubende können an ihren ermordeten Glaubensgeschwistern ein Maß und eine Orientierung für ihr Christsein gewinnen und sich mahnen lassen, wachsam zu bleiben.xix Dasselbe gilt dann auch für das Leben der Märtyrer. Dieses ist keineswegs im Augenblick ihres Todes in den Hintergrund gerückt; vielmehr muss es aus dem Leben her schon ersichtlich werden, warum die jeweilige Person sich im Zeitpunkt der Entscheidung so und nicht anders verhielt, [Zitat Schockenhoff] „Es ist vielmehr […] das Lebenszeugnis der Märtyrer, das ihrem freiwilligen Sterben Sinn verleiht.“xx [Zitat Ende] Daher kann auch das temporäre Versagen im Todeskampf nicht aus dem Martyriumsverständnis ausgeschlossen werden, wie es wohl mehrheitlich in der katholischen und orthodoxen Kirche suggeriert wird.
Es ist gerade das Zeugnis und nicht die Verfolgung der Märtyrer, das das Martyrium in Wahrheit definiert. Das Zeugnis wäre aber missverstanden, wenn es allein auf das Wort- oder Tatzeugnis kurz vor dem Tod begrenzt würde. Das ganze Leben der Märtyrer ist das Zeugnis. Und dieses gilt sowohl den Nachkommenden als auch der Welt. Märtyrer sind, so verstanden, wesentlich auf ein Gedenken angewiesen; deswegen gibt es überhaupt Heiligsprechungsprozesse und die Suche nach verscharrten Märtyrern. Bei diesem Gedenken kann es nicht darum gehen, die Opfer der Gewalt zu instrumentalisieren oder zu funktionalisieren.xxi Die Rede von einer Opferung von Christen durch Gott ist zurückzuweisen. Gott will keine Todesopfer. Wenn das Gedenken der Märtyrer im Vordergrund steht, dann nicht deswegen, um ihrem Tod nachträglich einen theologischen Sinn zu verleihen. Christen sollten der Märtyrer gedenken, weil es Glaubende waren, die aus ihrem Glaubensgeschenk heraus und mit ihrem Einsatz wahrlich Bewundernswertes getan haben: Sie haben jene geliebt und beschützt, die ihnen nah, aber auch fern und fremd waren. Sie waren – trotz der Brüche und Umbrüche in ihrem Leben – oft bis zum Schluss treu sich selbst und ihrem Glauben gegenüber. Sie haben die Gewalt, den Hass und das Verbrechen aufgedeckt und darin den Zukünftigen einen gerechten Weg der Orientierung gewiesen. Sie haben das Neue Sein in Christus für ihre Geschwister und gegenüber der Welt aufgezeigt. Dafür brauchen Christen das Gedenken an die Märtyrer.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
i Vgl. Leonid Luks: Der Kirchenkampf in der UdSSR und im kommunistischen Polen – ein Vergleich. In: Leonid Luks (Hg.): Das Christentum und die totalitären Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Köln, 2002. S. 251.
ii Das Wort Genozid wird von russischen WissenschaftlerInnen selbst gebraucht, z.B. vom Historiker Nikolai E. Emeljanov der Tichon Universität. Vgl. Nikolai E. Emeljanov: Tage besonderen Gedenkens der um Christi Gelittenen. In: Siebzehnte, jährliche theologische Konferenz der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen St. Tichon Universität. Band 1. Moskau, 2007. S. 312. [Николай Е. Емельянов: Дни особого поминовения пострадавших за Христа. В: XVII ежегодная богословская конференция Православного Свято-Тихоновского гуманитарного университета. Т. 1. Москва, 2007.]. Und auch Maxim W. Nikulin: Politik des Sowjetischen Staates im Verhältnis zur Russisch-Orthodoxen Kirche in den 20-30er Jahren. In: Bote des Katherinischen Institutes (Zeitschrift). Nr. 2. (22). Moskau, 2013. [Максим В. Никулин: Политика советского государства в отношении русской православной церкви в 20-30-е годы XX века. В: Вестник Екатерининского института. № 2. (22). Москва, 2013.] S. 151.
iii Assen Ignatow: Negation und Imitation. Die zwei Seiten des kommunistischen Verhältnisses zum Christentum. In: L. Luks (Hg.): Das Christentum und die totalitären Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Köln, 2002. S. 146.
iv Vgl. A. Ignatow: Negation. S. 147.
v A. Ignatow: Negation. S. 145. Aber auch russische Historiker gebrauchen diesen Begriff häufig. Vgl. M. W. Nikulin: Politik. S. 150.
vi Diese Weltanschauung trug also eindeutig positivistische Züge. Vgl. A. Ignatow: Negation. S. 145.
vii L. Luks: Kirchenkampf. S. 251.
viii Vgl. L. Luks: Kirchenkampf. S. 251.
ix Die ursprüngliche Verwendung von Marx weist in seiner Religionskritik darauf hin, dass Religion zu einem anthropologischen Defizit („Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur […].“) gehört, welches alle Menschen erfassen kann („die Religion [ist] das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.“). Dieser Topos wurde von den Bolschewiki und Lenin jedoch umgedeutet: nicht mehr Opium des Volkes, sondern für das Volk. Impliziert ist damit die heimtückische Manipulation der arbeitenden Klassen durch die Macht der Kirche. Wobei Marx Religion erst einmal auf einen verwerflichen, aufzuhebenden Zustand verweist („Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“), ist sie bei Lenin das Mittel (Opium) zur Herstellung dieses Zustandes durch den Machtmissbrauch der ausbeuterischen Klassen. Alle Zitate: Institut für Marxismus-Leninismus beim SK der SED (Hg.): Karl Marx und Friedrich Engels Werke. Band 1. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Berlin, 1956. S. 378f. Hervorhebungen im Original.
x M. W. Nikulin: Politik. S. 150. [защитник интересов эксплуататорских классов.].
xi Vgl. Katharina A. Schröter. In: Damaskin (Orlovskij): Feuer und Wasser. S. 23.
xii Vgl. Klaus Hildebrand (Hg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. München, 2003. Vgl. Katharina A. Schröter. In: Damaskin (Orlovskij): Feuer und Wasser. S. 19.
xiii A. Ignatow: Negation. S. 148.
xiv Vgl. Ebd.
xv Vgl. Ebd.
xvi Es wäre unsachgemäß, von einem stetigen konsistenten Verhältnis von Staat und Kirche zu sprechen. Die Politik unterlag in der Religionsfrage auch ihren Schwankungen, von 1941-45 könnte man sogar von einer Annäherung sprechen. Vgl. zum Verhältnis von Staat und Kirche: Boris F. Filippow: Ideologische und machtpolitische Determinanten der sowjetischen Religionspolitik von 1917 bis zum Ender der Sowjetunion. In: Peter Koslowski u.a. (Hg.): Religionspolitik zwischen Cäsaropapismus und Atheismus. Staat und Kirche in Rußland von 1825 bis zum Ende der Sowjetunion. München, 1999. S. 95-109.
xvii A. Ignatow: Negation. S. 148.
xix E. Schockenhoff: Entschiedenheit. S. 24.
xx E. Schockenhoff: Entschiedenheit. S. 25.
xxi Balthasar hat darauf hingewiesen, dass christliche MärtyrerInnen nicht beanspruchen, kultisch verehrt zu werden. Vgl. 8.2.2. Darin hat er m.E. etwas Richtiges erkannt. Grundsätzlich scheint das Martyrium als Deutungsphänomen nie aus der Gefahr einer Funktionalisierung der Opfer von Gewalt herauszukommen. Sofern ein menschliches Geschick von den Nachfolgenden als Martyrium gedeutet wird, ist ipso facto eine Art Herrschaftsform eingeführt. Die Entscheidungsmacht ist dem Opfer im Augenblick der Deutung entrissen und eine Gemeinschaft bemächtigt sich der Interpretation. Diese Deutung, als Herrschaft über das individuelle Geschick, kann sich auf die Deutung über die Geschichte insgesamt ausdehnen. MärtyrerInnenbestimmung konstituiert mitunter das Narrativ von Verfolgung und faktischen Rehabilitationsansprüchen. Die Herrschaft über das Individuum, dem im Konzept des christlichen Martyriums die Deutung seines eigenen Geschicks verwehrt wird (Selbstbetitelung), begründet mitunter diskursive Macht einer Institution, die aus dem ‚MärtyrerInnenblut‘ lebt. Sofern die Institution hierarchisch und nicht demokratisch verfasst ist, drängt sich ein solcher Verdacht umso mehr auf, da die Deutungsmacht im Interesse einzelner Führungsgestalten liegt. Der hier formulierte Verdacht kann seitens der Theologie und der Gemeinschaft immer relativiert werden; es ist aber zu bezweifeln, ob er jemals ausgeräumt wird. Ein eschatologischer Vorbehalt ist darum unabdingbar und sollte zum Wesen des christlichen Martyriums gehören. Darum halten alle konfessionellen Theologien in zweifacher Weise und in ökumenischer Einigkeit an einem eschatologischen Vorbehalt fest: Die in der Vergangenheit und heute vollzogene Betitelung und Deutung als Martyrium ist immer nur vorläufig. Es wird Gott anheimgestellt, die volle Wahrheit am Ende zu offenbaren und auch jene Menschen zu Märtyrern zu erheben, die in der Geschichte vergessen wurden und derer nie gedacht wurde. Christliches Martyrium ist damit wesentlich coram deo. Zum zweiten besteht Einigkeit darüber, dass das christliche Martyrium in seiner Essenz nur dann richtig erfasst ist, wenn es von der Sache her, um die gelitten wird, verstanden wird. Eberhard Bethge und Wolf-Dieter Hauschild haben darum vom Zeichen der christlichen Identität im Vollzug des Martyriums gesprochen. Die Sache selbst muss sich für andere wahrnehmbar darstellen. Und die Übereinstimmung von Person und Sache bildet das Wahrheitskriterium des christlichen Martyriums. Dann und nur dann, wenn sich das Evangelium in MärtyrerInnen manifestiert, sind diese christlich. Die konkrete theologische Auffassung dieser Manifestation ist freilich in den drei Konfessionen unterschiedlich. Sie kann sich in der Kirchenzugehörigkeit, wie bei Orthodoxen, oder in der moralischen Integrität, wie bei Katholischen, artikulieren.