"Die Geschichte des Christentums fängt gerade erst an..."
Das Leben und Werk von Erzpriester Alexander Men (1935-1990)


Erzpriester Alexander Men (1935-1990) gehört zweifellos zu den herausragenden Männern der russisch-orthodoxen Kirche des vergangenen Jahrhunderts. Durch seine pastorale Arbeit, seine theologischen Werke und seine öffentlichen Reden fanden Tausende von Menschen sowohl in der Zeit der atheistischen Propaganda als auch später, während politischer, sozialer und kirchlicher Veränderungen, zum Christentum.


Alexander Men wurde 1935 in einer jüdischen Familie in Moskau geboren. Seine Mutter konvertierte zum orthodoxen Glauben und taufte ihre Kinder orthodox. Der junge Alexander wuchs in engem Kontakt mit der orthodoxen Geistlichkeit und Intelligenz auf. Nach dem Schulabschluss wechselte er in die Biologieabteilung, wurde jedoch aufgrund seiner religiösen Überzeugungen vom Institut verwiesen. 1960 wurde er zum Priester geweiht und absolvierte anschließend ein Fernstudium am Leningrader Theologischen Seminar und später an der Moskauer Theologischen Akademie.

Während seiner 60-jährigen Dienstzeit war Alexander Men in drei Gemeinden in der Region Moskau tätig. Im Laufe der Jahre hatte er Gelegenheit, mehrere Perioden des politischen Lebens des Landes mitzuerleben, angefangen mit der Ära Chruschtschow, über die Herrschaftsperioden Breschnews, Andropows und Tschernenkos bis hin zum politischen Putsch unter Gorbatschow. Während der Herrschaft Andropows und Tschernenkos stand Alexander Men unter der Beobachtung des Staatssicherheitskomitees. In diesen Jahren (Anfang der achtziger Jahre) fanden Verhöre und Hausdurchsuchungen statt. In den Archiven des KGB tauchte Men unter dem Decknamen „Missionar“ auf. Noch vor den von Chruschtschow initiierten antireligiösen Ereignissen wurde 1958 Alexander Men’s erstes Buch „Der Menschensohn“ im Selbstverlag veröffentlicht. Auf dem Höhepunkt der antikirchlichen Kampagnen wurden einige Kapitel aus dem Buch in der Zentralzeitschrift des Moskauer Patriarchats veröffentlicht.
1968 wurde das Buch im Ausland von einem privaten Verlag unter einem Pseudonym veröffentlicht. In den folgenden Jahren erschienen weitere Bücher von Vater Alexander sowohl im Selbstverlag als auch im privaten Verlag im Ausland. Sämtliche Werke Men‘s wurden während der Sowjetzeit in Belgien veröffentlicht. In den darauffolgenden achtziger Jahren, von 1988 bis 1990, nutzte Alexander Men die Vorteile von Gorbatschows Glasnost und Perestroika und beteiligte sich aktiv an der Umgestaltung des kirchlichen und religiösen Lebens im Land. Er wurde zu zahlreichen Radio- und Fernsehsendungen, Interviews und Vorträgen eingeladen.


Ich würde gern noch ein paar Worte zur wissenschaftlichen Erforschung des theologischen Erbes von A. Men sagen.

In den wenigen Studien zu Leben und Werk von A. Men lassen sich leicht zwei Haupttendenzen erkennen. Zunächst einmal ist dies eine Darstellung von. A. Mich als Apologet des Christentums in seinem unermüdlichen Widerstand gegen die atheistische Ideologie des Sowjetstaates und die Bewertung seiner apologetischen Werke als offensichtliche Formen intellektuellen Anders-Denkens. Zweitens ist dies der Wunsch vieler Forscher des theologischen Denkens von A. Men.
Ich möchte ihn als Anhänger des russischen religiösen Denkens in der Person von Vertretern wie V. Solovev, N. Berdjaev S. Bulgakow, o. P. Florensky und andere.

In meiner Forschung betrachte ich A. Men‘s theologisches Erbe aus einer anderen Perspektive. Die Analyse seines Werkes erfolgt vor dem Hintergrund der herausragenden Leistungen der orthodoxen theologischen Akademien im vorrevolutionären Russland an der Wende zum 20. Jahrhundert und damit wirkt A. Men als Anhänger der akademischen Theologie, allerdings bereits aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Gegenstand der Untersuchung waren vor allem seine Entwicklungen auf dem Gebiet der russischen Bibelwissenschaft und der orthodoxen Exegese.1

Was ihn also als orthodoxen Exegeten auszeichnet, ist die Weiterentwicklung und Anwendung des orthodoxen Ansatzes zum Studium der Texte der Heiligen Schrift. Tatsächlich war der orthodoxe Ansatz bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der russisch-orthodoxen Bibelforschung entstanden. Im russischen theologischen Denken kam es zu einer „vorsichtigen“ Übernahme der historisch-kritischen Methode aus der protestantischen Theologie und es bildete sich ein „dualer Ansatz“. Dieser Ansatz ist eine Synthese aus dem Glauben an die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift und der „gesunden“ (Vater Alexanders Sprachgebrauch) Anwendung der historisch-kritischen Methode beim Studium biblischer Texte.


Bei einer genaueren Analyse der von Men in seinen Büchern verwendeten Quellen wird deutlich, dass dieser Ansatz auch für seine Quellenauswahl das entscheidende Kriterium darstellt. Tatsächlich greift er in seinen Werken auf die Werke von Professoren der Theologischen Akademien der vorrevolutionären Zeit zurück (Boris Turaev (1868-1920), Nikolai Drozdov (1849-1919), Alexander Zhdanov (1860-1909), Nikolai Glubokovsky ( 1863-1937)), religiöse Denker (Vladimir Solovev (1953-1900), Sergei Trubetskoy (1862-1905), Nikolai Berdyaev (1874-1948)) sowie Theologen-Exegeten, Professoren des St. Sergius Theological Institute in Paris (Sergius Bulgakov (1871-1944), Boris Sove (1899-1962), Anton Kartaschew (1875-1960), Bischof Cassian (Besobrazov, (1892-1965)) und Alexei Knjazev (1913-1991)) und, was von besonderem Interesse ist, für die Forschung auf dem Gebiet der Exegese zeitgenössischer protestantischer und katholischer Theologen (Charles Dodd (1884-1973), Gerhard von Rad ( 1901-1971), Joachim Jeremias (1900-1979), Jean Daniélou (1905-1974), John McKenzie (1910-1991) und andere.


Die Aufgeschlossenheit A. Men‘s gegenüber den Entwicklungen heterodoxer Theologen wird deutlich, wenn man die Entstehungsgeschichte des zentralen Postulats seines theologischen Denkens über die Jugend des Christentums analysiert. „Die Geschichte des Christentums fängt gerade erst an“ oder „Die Geschichte der Kirche hat gerade erst begonnen“ sind Aussagen, die er in Werken verschiedener Genres machte, etwa in Büchern, Vorträgen, Predigten oder privater Korrespondenz.
Nach Alexander Men‘s Tod wird sein Postulat über die junge Phase des Christentums von Forschern seines theologischen Erbes immer wieder aufgegriffen und es werden verschiedene Möglichkeiten zum Verständnis dieser Aussage angeboten. Unter anderem darüber, dass die Orthodoxie nach Jahrzehnten der Kirchenverfolgung in einem atheistischen Staat erst in eine neue Phase ihrer Existenz eingetreten sei. Ich möchte im Rahmen meines Vortrages aber auch noch auf eine andere Perspektive hinweisen.


So lässt sich in den Werken von A. Men deutlich erkennen, dass die Entstehung dieses Postulats direkt mit dem Konzept der „realisierten Eschatologie“ des protestantischen Exegeten Charles Dodd zusammenhängt. Men teilt dessen Meinung, dass die Lehre vom Kommen des Königreiches Gottes nicht unbedingt ein plötzliches, katastrophales Ende der Geschichte bedeutet. „Das Gericht der Welt“, schreibt Men, „begann mit der ersten Predigt Christi, und es gibt keine direkten Hinweise darauf, wie lange es dauern wird.“2 Im Evangelium versichert er, „das Kommen des Reiches Gottes wird nicht als plötzliche Revolution dargestellt, sondern auch als ein allmählicher, langer Prozess, der der Parusie vorausgeht.“ Men betont, dass in den Gleichnissen der Evangelien die Parusie „mit dem Wachstum eines Baumes aus einem Korn verglichen wird, mit Sauerteig, der allmählich geht.“


Gleichzeitig bezieht sich Alexander Men in seiner Argumentation systematisch auf das Konzept der „realisierten Eschatologie“ des protestantischen Exegeten Charles Dodd (1884-1973), das nach Men als Gegenreaktion auf die Ideen der eschatologischen Schule für evangelische Exegese (Johann Weiss, Albert Schweitzer). Men schreibt:

Er [Dodd] analysierte jene Stellen in den Synoptikern (insbesondere die Gleichnisse), die als die ältesten gelten, und zeigte, dass viele dieser Gleichnisse das Leben eines Menschen unter gewöhnlichen Bedingungen implizieren und nicht angesichts des bevorstehenden Endes der die Welt.

Und dann zeigt Men, wie Charles Dodd das Problem löst, den allmählichen, langen Prozess der Ankunft des Reiches Gottes mit dem Motiv der Überraschung, der Krise und des eschatologischen Gerichts zu korrelieren:

Die Lösung dieser Antinomie sieht der Exeget im Verständnis des irdischen Dienstes Christi. Sein Kommen kennzeichnete den Beginn der messianischen eschatologischen Ära; in seiner Person betraten Gott und das Reich Gottes die Tiefen der Geschichte. Die eschatologischen Reden Christi, die die traditionelle Symbolik der Apokalypse verwendeten, verschoben das Gericht nicht nur an das Ende der Geschichte, sondern verkündeten es als gegenwärtige und ewige Realität. Christus hat das Kommen des Königreiches nicht nur vorhergesagt, er hat es auch offenbart und die Menschen in dieses Königreich gerufen.


So gelangt derorthodoxe Exeget bereits zu dem Schluss, dass sich die gute Nachricht vom Reich Gottes nach der Theorie der „realisierten Eschatologie“ „nicht nur auf die Zukunft, sondern vor allem auf den Augenblick“ der Predigt Christi bezieht. Men identifiziert die Zeit des Wirkens Christi mit dem Beginn des Gerichts und des Reiches Gottes. Diese Phänomene werden vom Ende der Geschichte herübergetragen und zu einer andauernden und fortdauernden Realität erklärt. Darüber hinaus betont Men, dass in den Gleichnissen Christi (Markus 4:26-32; Matthäus 13:31-33; Lukas 13:18-21) von der langen und allmählichen Annäherung des Königreichs die Rede ist, und vergleicht sie mit dem Prozess der Reifung. Men schreibt:

Angesichts dieser Gleichnisse könnte man meinen, dass die Geschichte des Christentums auch heute noch höchstwahrscheinlich erst am Anfang steht. Für die Erfüllung der Pläne Gottes sind zweitausend Jahre nicht mehr als ein Augenblick. Der Wachstumsprozess ist langsam. Der Sauerteig wirkt nicht sofort.


Ausgehend von der Betrachtung der Frage, was fällig ist, d.h. in Übereinstimmung mit dem kirchlichen Bewusstsein, der Interpretation der Evangelientexte über die Stunde des Kommens des Reiches Gottes, formuliert Men sein Postulat über die Jugend des Christentums.
Es ist bemerkenswert, wie offen und frei A. Men die Entwicklungen eines heterodoxen Exegeten akzeptiert.


Und weiter ist festzustellen, dass Men seine Entwicklungen konsequent aus dem Bereich der Exegese auf den Bereich der Ekklesiologie überträgt. Ihre zentrale Prämisse ist daher die Behauptung, dass Christus der Gründer der Kirche war, der das Kommen des Reiches Gottes und seine Verwirklichung in einer geistlichen Gemeinschaft predigte, d. h. den Kirchen. Die Jünger Christi wurden die ersten Gründer einer neuen Gemeinschaft, deren Aufgabe es ist, vom bereits gekommenen Reich Gottes Zeugnis abzulegen. Die Aufgabe der Kirche besteht für A. Men darin, das Wachstum des Königreichs zu fördern. Und diese Aufgabe muss gemeinsam bewältigt werden. Nach seinem Denken ist die Konziliarität das bestimmende Merkmal der Kirche, in der die Persönlichkeit des Christen weder unterdrückt noch hervorgehoben wird. Men ist davon überzeugt, dass das Zeugnis der Kirche am besten in kleinen Gemeinschaften und kleinen Gruppen ausgeübt werden kann. Andererseits weist Men auf Phänomene hin, die die Umsetzung des Konziliaritätsprinzips und die Erfüllung des kirchlichen Auftrags behindern. Was behindert das Wachstum des Himmelreichs auf Erden? - und hier folgt die Antwort: Es handelt sich um den Unwillen, Verantwortung zu tragen, die Tendenz zur Abhängigkeit vom Stärkeren, um den Wunsch, einen Herrn als Versorger zu haben. Äußerst negativ sieht A. Men den Glauben ans Rituelle. Auch Phänomene wie Dogmatismus, Isolationismus, Nationalismus, Konservatismus und Traditionalismus werden negativ konnotiert. Men steht der Idee einer „Staatsreligion“ sehr zurückhaltend gegenüber; das Prinzip einer strikten Trennung von Kirche und Staat gehört zweifellos zu den wesentlichen Prämissen seiner Ekklesiologie.
Die vom Staat abhängige Kirche im Verständnis von Vater Alexander ist nicht in der Lage, angemessen Zeugnis für das Königreich Gottes abzulegen. Gerade die konsequente Trennung der Wirkungsbereiche beider Institutionen trage seiner Ansicht nach zur Herausbildung und Entwicklung einer eigenständigen Theologie bei.


Abschließend ist festzuhalten, dass in den vergangenen dreißig Jahren seit dem tragischen Tod von Alexander Men seine Arbeiten auf dem Gebiet der Exegese, Ekklesiologie oder Anthropologie nicht die gebührende wissenschaftliche und theologische Beachtung fanden und nicht richtig umgesetzt werden konnten.