"Das Wort der Neumärtyrer" ist ein neues Projekt der Theologischen Fakultät der Orthodoxen St.-Tikhon-Universität.
Das Studium des Lebens und Erbes der Neumärtyrer begann an unserer Universität seit ihrer Gründung im Jahr 1992. In den 30 Jahren der Arbeit der damals gegründeten Abteilung für die jüngere Geschichte der Russischen Kirche wurde viel getan. Es wurden viele Quellen gefunden - Dokumente aus der Epoche. Einige von ihnen gehören den Machthabern - der Regierung, der Partei, den Behörden, den einzelnen Machtträgern. Andere sind kirchliche Dokumente. Wieder andere - eine ganze Reihe von Quellen persönlicher Herkunft: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen. Und das vierte - Materialien von следсвенных дел. Es kann da alles Mögliche geben - von Verhörprotokollen über Briefe bis hin zu ganzen Büchern, die bei einer Durchsuchung beschlagnahmt und als materielle Beweise für den Fall herbeigenäht wurden. Alle gefundenen Dokumente werden wissenschaftlich bearbeitet. Sie werden sowohl einzeln als auch in Form von Sammlungen veröffentlicht, kommentiert und bilden die Grundlage für weitere Forschung. Nach solchen Dokumenten werden auch die Biographien der neuen Heiligen zusammengestellt. Bücher, Artikel, Publikationen werden ständig veröffentlicht.
Doch das Leben und das Erbe der Neumärtyrer ist den meisten Gläubigen bisher nur oberflächlich bekannt, im Allgemeinen. Inzwischen ist es für jeden einzelnen Christ und für die Kirche als Ganzes absolut notwendig, sich diese Erfahrung der Heiligen einzueignen, die ganz nahe zu uns zeitlich gelebt haben.
Daran, dass es ein Leben in Christus gibt, erinnert der Herr jede neue Generation auf eine besondere Weise - durch Worte und Taten, durch die lebendigen Erfahrungen der christlichen Zeitgenossen. So kam es dazu, dass das gemessene und etablierte Leben in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts abrupt zusammenbrach. Viele Menschen standen vor schrecklichen Veränderungen und sogar vor dem Tod. Und das Wort, das unter extremen Umständen gesprochen oder geschrieben wird, ist das tiefste, aufrichtigste und überzeugendste Wort, das es je gibt.
Genau so ein Wort - in Form eines Briefes, einer Anspache, einer Predigt oder eines Tagebucheintrags - war die Grundlage unseres neuen Projekts.
Wir haben den Zeitraum von 1917 bis 1988 in mehrere Abschnitte unterteilt: 1917-1927, 1927-1938 usw. Für jede solche Zeitspanne gibt es besonders wichtige und charakteristische Dokumente. Auf der einen Seite wählen wir sicher einige Dokumente aus, die die Ziele, Aufgaben und Verhaltensweisen des Staates zum Vorschein bringen. Zum Beispiel das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat, Lenins Brief über die wahren Ziele der Kampagne zur Beschlagnahme kirchlicher Werte, das von Trotzki vorgeschlagene Programm zur Zerstörung der Kirche von innen. Ohne dieses "Wort" kann man nicht verstehen, worauf die Menschen damals gestoßen sind und worauf sie als Christen ihre Antwort geben mussten. Und auf der anderen Seite - Hauptsache - wählen wir die wichtigsten Texte aus, die den Bekennern und Märtyrern gehören - vom Patriarchen Tichon bis zum einfachen Gläubigen. Jeder solcher Text, der von einem bestimmten Sprecher vor der Kamera gelesen wird, wird zum Zentrum eines kleinen Videos, das zwischen 10 und 20 Minuten lang ist. Dabei wird jedes Dokument unbedingt genau dort gelesen, wo es erstellt, gesprochen oder empfangen wurde. So wird das umgesetzt, was das bekannte Konzept der "Erinnerungsorte" sagt. Heute ist es so, wenn Sie in fast jede Stadt kommen, dann kann es wohl sein, dass Sie es nicht bemerken, dass da in jener Stadt jemand von den Martyrern des 20. Jahrhunderts gelebt und gedient hat. Dies geschieht auch dann, wenn genau die Kirche erhalten ist und sich die Bebauung der Straße nicht viel verändert hat. Und wenn sich der Raum verändert hat, umso mehr. Mittlerweile in jeder Stadt, in der Puschkin wenigstens unterwegs war. an dem Haus, in dem er sich aufhielt, hängt unbedingt ein Gedenktafel. Infolgedessen erinnern sich die Leute immer daran, keine Tour führt an diesem Ort vorbei, und die Stadt oder die Straße ist fest mit dem Gedächtnis des Dichters verbunden. Wir denken, dass die Erinnerung an Neumärtyrer auch so sein kann. Ein solches Gedächtnis wird allmählich zum kollektiven Gedächtnis. Das ist auch ein besonderes Konzept. Wenn alle zusammen sich daran erinnern, wenn diese Erinnerung Teil des Raumes, des Lebens, der Atmosphäre wird. In dieser Hinsicht schreiben wir nicht nur die hellsten und sinnvollsten Texte vor die Kamera, sondern tun dies genau dort, wo sie entstanden sind: auch an Orten der Verbannung und an Gefängnismauern, sowohl in den Hauptstädten als auch im fernen Norden. Das Wort der Neumärtyrer wird immer von einem wissenschaftlich verifizierten Kommentar begleitet. So wird es noch zugänglicher und passt nicht nur in einen räumlichen, sondern auch in einen zeitlichen Kontext. Außerdem wird jeder Text, jedes Wort so gewählt, dass er nicht nur wie die Stimme eines Einzelnen klingt, sondern wie die Stimme der Kirche, die solche Bekenner erzogen hat.
Eines der auffälligsten Beispiele ist der letzte Brief des Metropoliten Benjamin von Petrograd. Besonders geliebt von den einfachen Gläubigen von Petrograd, einschließlich der Arbeiter großer Fabriken, wurde er 1917, nach der Februarrevolution, im Volksmund zum haputstädtichen Mitropolitenkathedra gewählt. Und erst 5 Jahre später wurde er zum Tode verurteilt. Als er gewartet habe, erschossen zu werden, übergab Metropolit Benjamin einen Brief an einen engen Freund, einen Priester, aus der Todeszelle.
«Ich habe in meiner Kindheit und Jugend das Leben der Heiligen gelesen und ihr Heldentum, ihre heilige Begeisterung bewundert. Ich habe es in meiner Seele bereut, dass die Zeiten nicht die gleichen sind und man das nicht erleben muss, was sie erlebt haben. Die Zeiten haben sich geändert. Die Möglichkeit, um Christi willen alles zu ertragen, was uns die unseren und auch die fremden antun... Das Leiden erreichte seinen Höhepunkt, aber auch der Trost nahm zu. Ich bin wie immer fröhlich und ruhig. Christus ist unser Leben, Licht und Frieden. Mit Ihm ist es immer gut", schrieb er.
Damals, im Jahr 1922, organisierten die Behörden innerhalb der Kirche einen Putsch. Patriarch Tichon wurde verhaftet, und die Gemeinden, Diözesen und die Oberverwaltung übernahmen die von den Behörden unterstützten sogenannten Erneuerer (Обновленцы). Viele Bischöfe und Priester schlossen sich ihnen aus verschiedenen Gründen an: Jemand konnte es nicht verstehen und wurde betrogen, jemand hielt sich an Ort seines Dienstes fest, jemand hatte Angst vor Verhaftung, und jemand hatte wahrscheinlich gehofft, dass er die Obnovlenzi «überspielen» würde. Sowohl den Leien als auch den Geistlichen fiel es schwer, den richtigen Orientierungspunkt auszuwählen. Aber Metropolit Benjamin blieb auch im Angesicht des Todes fest. Er fuhr mit dem Brief so fort: "Um das Schicksal der Kirche Gottes habe ich keine Angst. Wir sollen mehr Glauben haben, WIR sollen ihn mehr haben, wir Hirten. Wir sollen unsere Arroganz, unsere Intelligenz, Gelehrsamkeit usw. vergessen und mehr Platz für die Gnade Gottes geben. Die Argumentation einiger, vielleicht herausragender Hirten, ist seltsam: Es ist notwendig, lebende Kräfte zu bewahren, das heißt, sie (diese Hirten selbst) bewahren, und dafür kann man alles aufopfern. Wozu brauchen wir Christus dann? Nicht die Platonovs, Chepurins, Benjamins und so weiter retten die Kirche, sondern Christus. Worauf sie sich zu stützen versuchen ist für die Kirche das Verderben. Das ist eine Schurkerei. Sich sollte man für die Kirche aufopfern und nicht umgekehrt. Jetzt ist die Zeit des Gerichts. Menschen opfern für politische Überzeugungen alles auf. Schauen Sie mal, wie sich die Eser halten: Gotz und dergleichen. Kann es überhaupt so sein, dass wir, Christen und sogar Priester, diesen Mut auch bis zum Tod nicht ausüben? Haben wir denn noch etwas Glauben an Christus, an das Leben der kommenden Welt?»
Ein solches Wort klingt wie ein Märtyrerakt, nur nicht des vierten, sondern bereits des 20. Jahrhunderts.
Zu diesem Zeitpunkt haben wir die erste Staffel - von Oktober 1917 bis Anfang 1927 - fast abgeschlossen. 36 Folgen des Projekts sind im Durchschnitt einmal pro Woche erschienen. Eine zweite Staffel steht bevor und, so Gott will, auch die nächsten.
Die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität verbindet somit zwei Dimensionen: Zum einen wird die Zeitgeschichte wissenschaftlich erforscht und die Ergebnisse werden der Kirche als Ganzes und jedem Menschen, der sich als Teil von ihr versteht oder auf dem Weg zu ihr ist, zugänglich gemacht.